Zerrissenes Buch

 

4. Platz beim 4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018

 

Die Kindertasse schepperte über den Terrazzoboden. Die verschüttete Milch roch schwach säuerlich und nach Unheil. Ein kleines Mädchen presste ihre Hand auf den Mund.

„Das war aber laut!“, rief sie.

Zaghaft lächelnd tänzelte sie von einem Bein auf das andere und zupfte sich am Pferdeschwanz.

Ein schmaler Sonnenstrahl wanderte über die Wand und erweckte Staubpartikel zum Leben.

Der Vater saß am Küchentisch und blätterte in der Zeitung. Er runzelte die Stirn, die trotzdem steinern wirkte. Seine Augen waren blau. Gletscherblau.

„Ich mach es ja weg“, bemerkte sie, „später! Aber jetzt lese ich weiter, es ist so spannend.“

Sie schob trotzig die Unterlippe vor und ging zum Tisch, um das Buch zu holen.

Der Vater stand langsam auf. Er war nicht groß, aber breitschultrig und hatte ein Grinsen im Gesicht, das keines war. Er griff nach dem abgelesenen Schmöker und hielt ihn über den Kopf.

Die Küche vibrierte. Ein LKW fuhr in der engen Straße am Mietshaus vorbei. Gläser zitterten und klirrten leise im Schrank. Sonst war es still.

„Gib mir mein Buch zurück!“, schrie das Kind, stieß mit dem Fuß gegen das Schienbein des Vaters und sprang an ihm hoch. Dessen Augen waren in die Ferne gerichtet. Sein breiter Mund zuckte.

Er stand regungslos da und hielt die Lektüre fest in den Händen. Er sprach dabei nicht.

Seine behaarten großen Hände fanden Worte. Lautstarke Worte. Er riss das Buch in der Mitte durch, aus einem Impuls heraus. Und noch einmal, einzelne Seiten. Und noch einmal. Das Geräusch zerschnitt den Raum. Es hätte die Haut aufritzen können.

Der Vater ließ sich Zeit.

Sie jammerte und brüllte. Einzelne Tränen flossen an ihren Wangen hinab. Sie stampfte mit den Füssen auf.

Er legte das verletzte Geschriebene und Geliebte auf den Tisch und verließ die Küche.

Das Kind streichelte über den zerstörten Einband und sammelte die Seiten ein. Das Mädchen weinte nicht mehr. Sie starrte vor sich hin und zog sich zurück in eine innere Kammer, ging zu einem unsichtbaren Ort, zu dem keiner Zutritt haben würde.

Tage später saß der Vater abends am Tisch und klebte die Seiten zusammen. Der Buchrücken wurde notdürftig mit Pappe verstärkt.

Schweigen dehnte sich in der Wohnung aus wie Bauschaum. Es dauerte sechs Wochen. Beharrlich blieb er stumm, tagein, tagaus.

Unbeholfen plapperte das Mädchen drauflos. Morgens nach dem Aufstehen und abends vor dem Schlafengehen. Meistens verkroch sie sich in ihre Spielecke. Das Buch versteckte sie unter dem Bett.

Nach den vielen Tagen mit finsterer Miene und einem strengen Tagesrhythmus, fing er plötzlich wieder zu sprechen an:

„Gibt es heute keinen Kaffee? Es ist doch schon halb vier!“

Er schaute seine Tochter dabei an und nicht seine Frau.

„Doch, doch, Mutti hat Kuchen gebacken“, antwortete sie erleichtert.

Er schaute auf die Uhr. „Dann lass uns den Tisch decken“, sagte er, betont leicht.

 Sie holte die Tischsets aus dem Schrank, die statt einer Decke das empfindliche Holz schützen sollten. Dann die zwei Becher mit dem Aufdruck ‚Sie‘ und ‚Er‘ und ein Glas für ihren Kakao.

Er trank seinen Kaffee mit Dosenmilch, immer zwei Becher. Danach ging er ins Badezimmer und wusch sich ausgiebig die rissigen roten Hände. Er strich sich über die längliche raue Narbe am Kopf.                     

 

Der Vater saß im Lehnstuhl und rieb die Altersflecken seiner Hand. Einzelne Finger waren gekrümmt. Seine Tochter reichte ihm die Tasse mit Milch. Er zitterte. Sie saßen lange schweigend nebeneinander. Vor dem Fenster war es dunkel geworden.

Die Frau sah auf die Staubflocken unter dem Tisch, die sich sanft hin und her bewegten. Sie sagte:

„Nachher werde ich staubsaugen, da liegt schon wieder etwas. Wo kommt es bloß her?“

Der Vater nickte und fragte:

„Liest du mir wieder vor?“

Sie nahm das alte Exemplar ‚Ronja Räubertochter‘ aus der Tasche.

„Warum ist das Buch so ramponiert?“, erkundigte er sich.

Die Frau zögerte.

„Weißt du es nicht mehr?“

„Nein, was soll ich wissen?“

Sie stand auf und scharrte mit den Füßen. Sie lief unschlüssig zum Fenster und schaute hinaus. Ein Kind lief über den Gehsteig, es trug ein grünes Kleid und zog einen Hund hinter sich her. Ein Mann ging mit großen Schritten neben ihr, gestikulierte beim Sprechen und lachte so laut, dass es bis in die Wohnung schallte.

Die Tochter setzte sich, ganz vorne auf den Rand des Stuhls und zog den Pullover über die dünnen Narben an den Armen. Sie sagte leise:

„Du weißt doch, ich war ein wildes Kind. Ich hab es zerrissen.“

„Du warst so wild wie eine richtige Räubertochter, aber ich hab alles wieder heil gemacht.“ Der Vater lächelte und schaute sie an. Sein Blick war trüb.

„Ja, Vater, das hast du“, sagte sie und tätschelte seine Schulter.

Er schloss die Augen.

Fang an zu lesen, es ist so spannend.“

 

 

 Die Followerin

 

In: "Großstadtgefühle - Nächster Halt Friedrichstraße", hrsg. von S. M. Gruber, Liv Modes, Jen Pauli, Katharina Stein, Berlin 2019

  

Krasses Kunstlicht in den Arterien der Stadt. Clownsgesichtige Menschen auf dem Bahnsteig. Schatten auf weißen Wänden. Gerüche, die es nur im Untergrund gibt. Ein Windhauch. Quietschen, das an ein entfesseltes Lachen erinnert. Die U-Bahn fährt ein. Friedrichstraße.

Er schaut von seinem Smartphone auf und folgt den anderen Hosenbeinen in den Wagen.

Ich folge ihm, benutze aber eine andere Tür.

Ich folge ihm seit vier Monaten. Ich bin verliebt. Täglich kontrolliere ich seinen Instagram-Account. Ich weiß immer, wo er ist. Ich kenne seine Wohnung, sein Bett, ich kenne seine Freunde, seinen Hund, ich weiß, was er morgens isst.

Ich liebe ihn sehr. Er hat mich erst einmal angesehen, mehr zufällig, als wir zusammen an der Kaufhauskasse standen. Ich weiß nicht, ob er gelächelt hat. Es ging alles so schnell. Er wohnt ein paar Straßen weiter, er heißt Daniel.

 

Ich bleibe an der Tür stehen, lehne mich an die Wand und schaue aus dem Fenster auf die rasende Schachtwand. In der Spiegelung kann ich ihn sehen. Er tippt auf seinem Smartphone herum. Bestimmt hat er viele Kontakte.

Ich sehe meine Silhouette. Rasch schaue ich weg.

Die U-Bahn ist voll. Ein prall gefülltes Kissen, das an den Haltestellen aufplatzt. Verärgert schauende Menschen steigen ein und steigen aus.

Auf der Bank gegenüber sitzen eine Frau mit raspelkurzen weißen Haaren und ein Mann, bekleidet mit einem schwarzen T-Shirt, auf dem ‚minimalism‘ steht.

 

Gesprächsfetzen im Hintergrund:

„Bei uns zu Hause ist schon länger alles in schwarz-weiß und grau. Weiße Wände, schwarze Möbel, graue Sitzlandschaft in Betonoptik, schwarz-weiß-gestreifte Kissen. Ich hab mir mal die Pulsadern aufgeschlitzt, tropfte voll rot aufs Sofa.“

„Krass.“

„Is‘ ja nix passiert. Kam ein neues Sofa, schwarzes Leder.“

„Damit macht so eine Aktion keinen Spaß mehr.“

 

Am Halleschen Tor steigt Daniel aus. Ich folge ihm durch den langen Gang mit Waldmotiven an den Wänden. Geigenklänge schweben durch die Luft. Tschaikowsky unter der Erde. Unwirklich und zauberschön. Ich habe einen Kloß im Hals. Mir steigen Tränen in die Augen. Bloß das jetzt nicht.

Ab in die U1 bis Schlesisches Tor.

Er eilt die Straße entlang. Ich laufe hinter ihm her, rudere durch den Menschenstrom. Ich darf ihn nicht verlieren.

Ein Klangteppich pfeifender Hochbahnen und klappernder Rollkoffer. Ein Potpourri fremder Dialekte und Sprachen.

Rechts das Restaurant Taj Mahal  und links das Marrakesch, vor mir der Antalya-Grill. Schon wieder ein neues Baugerüst. Überquellende Gemüse- und Obststände. Farbenrausch. Rot-, Gelb- und Grüntöne, vor allem Rot, Erdbeeren, rotwangige Äpfel, Himbeeren, Tomaten, Radieschen, Chilischoten, Kirschen.

Ich schaue hoch. In einem Baum hängen unzählige an den Schnürbändern zusammengebundene Turnschuhe. Darüber ein satter, dunkelblauer Himmel.

Er überquert die Straße in Richtung Park. Ich bin jetzt direkt hinter ihm.

Daniel passiert das Spalier der Dealer, die am Eingang des Parks herumstehen. Es ist ein warmer Frühlingsabend, und im Park wird gegrillt. Rauchfahnen steigen gleichförmig auf.

Ein Duftcocktail aus verbranntem Fleisch und Marihuana liegt in der Luft.

Die Haut des Parks ist verletzt. Überall Brandflecken. Braun getreten der Rasen, oder das, was von ihm übrigbleibt. Gurrende Tauben, Spatzen.

Flaschensammler mit Einkaufswagen, Jogger, Hunde, Kinder, Partypeople bevölkern den asphaltierten Mittelweg.

Aus der Ferne Saxophonklänge und das Trillern und Flöten der Nachtigallen.

Die Bäume sind groß geworden auf dem ehemaligen Eisenbahngelände. Hinter der Steinmauer wachsen Birken, Ulmen und Robinien. 

Auf den Wegen und im Gebüsch Müllhaufen, Grillreste, Hundekacke, gebrauchte Kondome. Tristesse, an der orangefarbene Abfalleimer auch nichts ändern.

Ich schleiche hinter Daniel her.

Er steuert auf eine Bank zu, auf der zwei Dealer sitzen. Sie verticken Gras und murmeln: „Special price“. Ein Tütchen Cannabis wechselt den Besitzer. Der Dealer grinst. Das Basecap ins Gesicht geschoben. Nike-Turnschuhe in knalligen Farben.

Ich stelle mich hinter Daniel in den Schatten des Baumes. Er hebt sein Smartphone und macht ein Selfie.

Ich atme tief ein und lächle.

Nun wird er mich endlich erkennen. Bald sind wir vereint.

 

 

 

 

Eingefahren

 

In: erostepost, Literaturzeitschrift, Nr. 59, Salzburg 2020

 

Wenn Mia den Geschmack von Babyhaut im Mund hat und das Schreien des Kindes hört, obwohl es nicht da ist, dann geht sie in die Bar nebenan. Die gab es schon, als sie geboren wurde. Die Einrichtung ist mitgealtert. Eine verstaubte E.T.-Figur aus Plastik steht auf der Zapfanlage. Schummerige Beleuchtung mit einem Blaustich. Die anderen Gäste sind Schemen.

Sie setzt ihr Quatsch-mich-bloß-nicht-an-Gesicht auf. Der Barkeeper Luis grinst. Er kennt sie gut und schiebt ihr den Jim Beam Black rüber und verzieht sich. Mia kreist mit dem Zeigefinger in der Wasserlache auf der Theke, malt ein Herz auf das Holz. Die Musik ist mehr als nur Hintergrund. Sie ist so laut, dass sie das Pochen im Kopf übertönt. Sie schaut sich um. In der Ecke ein sich küssendes Paar. Schnell schaut sie weg. Heute zum Glück kein Tom Waits.

Das hat sie gestern nicht ausgehalten und ist raus an die Spree gegangen, wo die Afrikaner sitzen. Da riecht es gut. Tayo, Abed, Hanad. Ja, sie haben Namen. Sie haben ein Leben. Sie grillen direkt am Wasser. Auch im Winter. Mia hat ihnen vor ein paar Wochen Fleisch mitgebracht. Sehr gutes vom türkischen Lebensmittelhändler um die Ecke. Die haben sich irre gefreut, und klar hat sie mitgegessen. Danach noch verdammt gutes Gras geraucht. Der Mond war kitschig groß und erdfarben. Nach Mandarinen und Eukalyptus und ein bisschen nach Holzkohle roch der Fluss. Zum Abschied bekam sie ein Bild geschenkt. Ein Bild mit Tränen in den Augen von Nashörnern und Wildhunden.

Zu Hause nahm sie den leeren Rahmen von der Wand. Ein Jahr war er leer. Nun nicht mehr.

Yves war zurück nach Paris gegangen und hatte das Foto mitgenommen, das sie zusammen lachend mit der Kleinen zeigte. Einfach weggefahren an einem Sonntagmorgen. Gut, sie hatten gestritten. Ziemlich heftig. Aber den Vorfall mit dem Kind hätte er nicht erwähnen dürfen. Da rastet Mia aus. Darüber muss nicht mehr gesprochen werden. Sie hat es nicht vergessen. Er nicht. Sie werden es nie vergessen. Niemals.

 

Ein Lufthauch. Sie dreht sich um. Ein Mann ist in die Bar gekommen. Fadendünn oder haarfein. Schwarze Klamotten, was sonst. Er geht etwas zögerlich, das macht ihn sympathisch. Sie korrigiert ihre Gesichtszüge und streicht sich durch die Haare. Er steuert auf den Tresen zu. Könnte ihr Fall sein. Aber sie weiß gar nicht mehr, wie das ist.

Mia betrachtet die Flaschen im Spiegelregal hinter der Theke.

„Hast du schon mal einen Chartreuse getrunken. Ich lade dich ein“, sagt er.

Sie betrachtet ihn an und denkt, warum jetzt ausgerechnet was Französisches.

„Ne, kenn ich nicht“, erwidert sie.

Luis zwinkert ihr zu und schiebt die Gläser über das Holz. Das Zeug schmeckt ihr nicht, aber das ist ihr egal.

Ein Gespräch beginnt. Irgendetwas über bildende Kunst oder Literatur. Sie fragt sich, ob sie sich später noch erinnern wird, worüber sie geredet haben. Sie mustert sein Gesicht. Schon attraktiv. Aber irgendwie völlig falsch. Sie kündigt an, dass sie zur Toilette müsse. Hinten ist auch ein Ausgang. Luis wird das schon verstehen.

Mia geht nicht nach Hause. In der Küche stehen halbvolle Teller mit angeklebten Nudelresten. In den Räumen tauchen nur wieder die Schatten auf, sie lauern in den Zimmerecken. Die Erinnerung an vertrocknete Schneeglöckchensträuße und kleine Engelfiguren. Sie blättert ab wie Farbe von der Wand.

Mia streift durch die Nacht und weicht den Radfahrern aus. In der hell erleuchteten Außenvitrine der Galerie sieht sie ein Foto. Ankündigung einer Vernissage. Das Gesicht kennt sie, hat sie gerade erst gesehen. Auf dem Foto sieht er noch besser aus als eben.

Regentropfen fallen auf ihre Jacke und versinken im Stoff. Das Kopfsteinpflaster glitzert. Ein Lichtfest.

Mülltonnen am Straßenrand, aufgereiht wie ein lückenhaftes Gebiss. Eine quietschende Tür. Ein Straßenbrunnen in Chromoxidgrün. Menschen mit Bierflaschen. Nur wenige. Mia blickt auf ihre ausgetretenen Turnschuhe und kickt eine Dose weg.

Sie läuft zum Berliner Hauptbahnhof und kauft ein Ticket nach Paris. Nachtzug in einer Stunde. In der Bahnhofshalle hausen die Tristesse und die Einsamkeit. In Lumpen gehüllte Gestalten schlafen auf den Bänken aus Stahl. Ein Einkaufswagen mit den Habseligkeiten. In Bahnhöfen ist immer noch eine Schippe mehr von allem, denkt sie und geht in den Presseshop und studiert die französischen Zeitungen. Der Verkäufer ist anscheinend übermüdet, er kann das Gähnen nicht unterdrücken. Sie nimmt nur einen Coffee-to-go mit.

Coffee-tut-gut, Coffee-tot-go.

 

Auf dem Bahnsteig in der Ferne ihr Kind mit dem Teddybären. Es lief auf die Schienen zu. Mia fing zu schreien an und stürmte auf das Kind zu. Es fiel in das Gleisbett. Ein Zug rauschte heran. Ein Knacken und ein splitterndes Geräusch. Menschenreste. Überall Blut. Ein rotes Teddybärbein.

 

Mia steht dicht an der Bahnsteigkante und starrt in die Schwärze des Tunnels.

Ich werde Yves schon finden. Geht ja nicht anders. 

 

 

Hochzeitstag

 

In: Der Maulkorb, Blätter für Literatur und Kunst #28, Dresden 2020

 

Ein langer Tisch in der Ecke des Festsaals, übersät mit leeren Flaschen und Gläsern, dunkelgrünen Flaschen, halbvollen Gläsern. Das weiße Tischtuch zerknittert.

Zieht man am Tuch mit einem Ruck, bleibt alles stehen. Gläser sind träge.

Zappel-Philipp wusste es nicht. „Nach dem Tischtuch greift er, schreit. Doch was hilft’s? Zu gleicher Zeit fallen Teller, Flasch’ und Brot.“

Diese Gedanken verfolgen sie, als sie auf dem harten Holzstuhl vorne auf der Kante sitzt und die Knie zusammenpresst.

Langsam streift sie die High Heels ab. Sie sehen aus wie Vogelfüße. Ihre Wadenmuskeln sind angespannt, während sie in bequeme Schuhe schlüpft.

Als Kind kauerte sie im W-Sitz auf den Knien und spreizte die Unterschenkel weit nach außen ab. Wunderwachtel nannte sie die Mutter, wenn sie zuhause war, und das war sie fast nie. Wachteln singen in der Dämmerung. Sie sang nie.

Der Schleier sinkt zu Boden, der Tüll saugt die Rotweinflecken auf dem Boden auf. Der Saum färbt sich hellrot. Sie spielt mit dem goldenen Ring am Finger. Er ist zu weit. Sie kann ihm nicht trauen.

An der Wand ein Poster mit verblichenen Gondeln, die in der Lagune schaukeln.  Schwarze Schatten im Brackwasser. Eine Ecke des Plakats ist abgerissen. Der Linoleumboden hat dunkle Streifen. Sie hat noch den Dreivierteltakt im Ohr.

‚Ich war noch nie in Wien‘. Sie summt eine Walzermelodie und betrachtet ihren Bräutigam, der die Stühle zusammenstellt. Oder sagt man jetzt Mann? Das Wort schmeckt nach Salz. Schnell nimmt sie einen Schluck aus dem Glas und stürzt dann den schalen Rest Sekt hinunter. Ihre trockenen Lippen bleiben am Rand kleben, sie fährt sich mit der Zunge über die Zähne, die sich rau anfühlen.

Der letzte Gast zieht den Mantel an. Er winkt und schlägt die Tür zu.

Nur das Geräusch des Schabens der Stuhlbeine auf dem Boden unterbricht die Stille.

Sie mustert das Gesicht ihres Mannes, die vertrauten Falten. Sie kennen sich seit zehn Jahren. Er schaut zu ihr herüber. Sein Lächeln sieht aus wie ein gekrümmter Strich. Sie mag das Flehen in seinen Augen nicht, seinen Blick auf ihre Beine.

Ein Geruch nach Fisch und Fleischresten liegt in der Luft. Die Hochzeit war seine Idee gewesen.

Durch das offene Fenster weht Nachtwind herein. Sie kann Sterne funkeln sehen. Den Mond sieht sie nicht.

In der letzten Nacht streichelte sie seinen Bauch stockend und ließ ihre Hand auf ihm ruhen. Der Raum war kalt gewesen. Er schlang seine Arme um ihren Nacken. Sie hatte nichts gedacht und gefühlt. Die Nachttischlampe gab Knistergeräusche von sich.

„Ich geh vor die Tür, frische Luft schnappen!“ Sie hat das Gefühl, dass sie heiser klingt. Ihr Mann blickt sie an und nickt.

Sie geht auf die Straße. Die Kaffeebude hat noch auf. Warmes Licht sickert auf das Pflaster. Sie holt sich einen Kaffee, einen tiefschwarzen in einem knallroten Becher, und steht wie angewurzelt auf dem Bürgersteig. Autos rasen an ihr vorbei. Ein Hund bellt in der Ferne. Eine Mülltonne wird an den Straßenrand geschoben.

Hochzeit ist, als ob die Farben abgeschafft würden, eine arktische Landschaft oder ein Film in schwarz-weiß.

‚Ich bin noch nie in Wien gewesen‘.

Am Fenster des Festsaals ein Schatten. Eine Silhouette. So vertraut.

 

 

Gitanes ohne Filter

 

In: Dichtungsring, Zeitschrift für Literatur, "Unterwegs", Heft 58, Bonn 2020

 

Ann erkennt ihn sofort an seiner Angewohnheit, in den ausgebeulten Sakkotaschen Unmengen von Münzen aufzubewahren. Der Taschentresor zieht die Jacke bis zu den Kniekehlen hinunter. Es klimpert bei jedem Schritt. Bestimmt sind noch alte Pfennige und Groschen dabei. Vielleicht auch ein übriggebliebener Penny von einer Reise nach England, überlegt sie.

Er schleicht über den Bahnhofsvorplatz. Ihr kommt es so vor, als ob er das rechte Bein nachzieht. Unter dem Arm trägt er einige Hefte.

 

Früher las Tom Sartre und Camus, trank Bourbon Whiskey, auch existentialistisch aus dem Zahnputzglas, rauchte Gitanes ohne Filter, die er im Aschenbecher nicht ausdrückte sondern nur leicht ausdrehte, sodass sie weiterglühten. Dann kippte er alles in den Papierkorb. Auf diese Weise hatte er damals sein Zimmer in Brand gesetzt und war mit einer schweren Rauchgasvergiftung ins Krankenhaus gekommen. Verbrannt die Plattensammlung. Verbrannt auch der mit enorm vielen Büchern strapazierte Schreibtisch, der durch den Zigarettenrauch eine ledrige Haut bekommen hatte, gewissermaßen eine aromatische Lasur.

Das Abitur schaffte er trotzdem. Mit Auszeichnung. Nur im Zeichnen war er schwach.

An einem Winterabend fing es an mit ihnen. Ann trödelte auf dem Schulhof herum und lief immer wieder Kreise mit ihren Stiefeln in den Schnee. Sie reckte das Gesicht nach oben. Jede einzelne Flocke nahm sie wie eine Fingerspitze wahr. Ganz allein stand sie im Schneegestöber und kühle Finger streichelten ihre Haut.

Tom kam aus dem Gebäude als letzter wie immer und lief auf staksigen Beinen direkt auf sie zu.

„Ich mag dunkelhaarige Mädchen, die eine John-Lennon-Brille tragen und die griechische Buchstaben wie im Schlaf schreiben können.“

In ihren Ohren klang es ein bisschen auswendig gelernt und ein bisschen wahr.

„Aber ich trage doch gar keine runde Nickelbrille. Ich trage überhaupt keine Brille“, protestierte sie.

„Das macht nichts“, meinte er und zündete sich eine Zigarette an.

„Willst du?“ Er hielt Ann die blaue Schachtel hin. Tom überragte sie um gut einen Kopf.

Sie schüttelte den Kopf.

„Wollen wir Silvester auf einen Berg steigen und uns das Feuerwerk anschauen?“, fragte Tom. Sie bemerkte das Blinzeln in seinen Augen und erwiderte lächelnd:

„Hier gibt es doch gar keine Berge.“

„Lass dich überraschen.“

Tom meisterte eine perfekte Drehung und rutschte auf dem glatten Untergrund von dannen.

Am letzten Tag des Jahres saßen sie auf dem Dach eines Hochhauses und schauten über die Stadt. Die Lichter. Das Leuchten am Horizont. Schwirrende Strahlen. Paillettenregen. Gefunkel und das Glitzern. Der Glanz. Der Glanz in ihren Augen überstrahlte alles.

Oben war die Stadt sehr still. Sie schwiegen. Das Schweigen ging von Ann aus. Ihr ganzer Körper war Schweigen. Zusammen rauchten sie eine Gitanes, stießen gleichzeitig den Rauch aus, und dicke Qualmkringel stiegen in den Nachthimmel auf. Hinauf bis zum Mond.

Sie schwiegen auch, als Ann zwei Jahre später in den Zug stieg, der sie in eine andere Stadt brachte, hinein in ein anderes Leben. Ein völlig anderes.

 

Ann geht hinter ihm her. Sie tänzelt wie eine Ballerina. Ihre Beine in schwarzen blickdichten Strumpfhosen sind immer noch schlank, fast makellos. Die kurzgeschnittenen weißen Haare hat sie unter einer Baskenmütze versteckt.

An der Bordsteinkante steht eine Litfaßsäule, die mit grauem Papier beklebt ist. Keine Werbung, keine bunten Plakate. Daneben ein überquellender Abfallbehälter. Achtlos weggeworfene Apfelsinenschalen, Plastikbecher, Zigarettenkippen.

Der Mann bleibt stehen, hält eine Zeitschrift hoch und starrt die Leute an, die an ihm vorbeihasten und ihn nicht beachten.

Direkt vor ihm nimmt sie die Sonnenbrille ab und beobachtet ihn. Er sieht irgendwie krank aus, denkt sie, aber es ist auch so lange her.

„Wollen Sie ein Exemplar kaufen? Es sind auch mehrere Zeichnungen drin.“

Sie zögert und fragt mit belegter Stimme:

„Sind die von Ihnen?“

Nickend zupft er sich am Ohrläppchen. Ein Hund bellt und zerrt seinen Besitzer über den Platz. Über die groben Steine rollt eine leere Flasche.

„Ich nehme eins.“

„Zwei Euro.“

Sie reicht ihm einen Fünfeuroschein und schaut ihm noch einmal direkt ins Gesicht. Gelbliche Haut mit einzelnen Falten, die Haare gelichtet.

In der Jackentasche kramt er nach Wechselgeld.

„Passt schon“, murmelt sie.

Er zieht die Augenbrauen zusammen, ein zaghaftes bitteres Grinsen, aber er blickt durch Ann hindurch, und sie schaut weg.

Ein Auto hält am Straßenrand, eine junge Frau lacht und winkt.

„Ruben, was machst du hier? Ich hab dich überall gesucht. Komm, steig ein, wir fahren jetzt zum Schwimmen, so wie jeden Mittwochnachmittag.“

Er eilt zu ihr, nein, er humpelt nicht, und lässt sich auf den Beifahrersitz fallen. Der Wagen braust davon.

Ann macht sich auf den Weg zum Bahnhofsgebäude, das ihr gewaltig und feindselig erscheint, sie sieht sich noch ein paar Mal um. Für sie läuft alles in Zeitlupe ab. Sie spürt kaum den aufkommenden Wind und auch nicht den Nieselregen, die feinen Tropfen aus hustenden Wolken. Beinahe stößt sie mit einem alten Mann zusammen, der sich leise fluchend entfernt.

Auf dem Bahnsteig auf einer Bank blättert sie in der Monatsschrift.

‚Rauchzeichen. Grafiken und Aphorismen von Ruben Mahler‘.

Seite für Seite entfaltet sich eine Welt aus zarten Bleistiftstrichen, Strukturen und Schattierungen, Netzen, Mustern wie zerknittertes Papier. Sie erkennt Hügel, mäandernde Wasserläufe, Wölfe und Schafe.

Der Boden vibriert durch einfahrende Eisenbahnen auf den Nachbargleisen. Sie zittert. Ein gutes Pseudonym hat er, denkt sie und runzelt die Stirn, warum er das wohl hat? Aber seine Augen sehen noch genauso aus wie früher, dunkelgrün mit einigen tabakbraunen Sprengseln. Sie sitzt auf der Bank wie festgewachsen, tief in Gedanken versunken. Fast verpasst sie ihren Zug. In letzter Minute steigt sie ein. Zurück auf ihren verzauberten Berg.

 

Im Treppenhaus

 

In:  SYLTSE - Zeitung für Schwerdenkeleien & Leichtsinnigenten, #004, 2020, hrsg. von Stephan Tikatsch, 3500 Krems an der Donau, Österreich

 

Einmal die Woche mache ich die Treppe. Fünf Etagen. Altbau. Früher hat es die alte Frau Meyer gemacht. Aber die kann es nicht mehr. „Nun müssen die Jungen ran“, hatte sie zu mir gesagt. Der Vermieter war begeistert und senkte meine Miete gleich um hundert Euro ab. Ich nehme nun jeden Freitag den schäbigen Plastikeimer, den mir Frau Meyer überlassen hat, einen Schrubber und den Wischlappen und etwas von der streng riechenden Flüssigkeit. Nicht zu viel, damit keine Rutschbahn entsteht, und ich steige die vielen Stufen hinauf in den obersten Stock. Dort ist Oberlicht. Ich stehe oft darunter und zähle die Wolken oder höre mir das Prasseln des Regens an, es klingt wie ein Trommelwirbel. Dort ganz oben soll eine Künstlerin wohnen, aber die habe ich noch nie gesehen und gehört, obwohl ich schon seit zehn Jahren in dem Haus wohne.

Ja, ich bleibe gerne vor den Türen stehen und lausche, ich verharre ganz still, damit mir nichts entgeht. In manchen Wohnungen höre ich Kinderlachen, Hundegebell, Staubsaugergeräusche, das Zupfen der Saiten eines Cellos. Pizzicato mit Bohnerwachs.  

Wenn jemand aus seiner Wohnung kommt oder einer durch das Treppenhaus geht, dann grüße ich immer höflich und ziehe den Eimer beiseite.

Montags fange ich schon an, mich auf den Freitag zu freuen, wenn ich morgens in den Bus steige und zur Arbeit fahre zu dem grauen Haus an der grauen U-Bahn-Station neben dem grauen Altkleidercontainer, dekorativ umweht von rot-weißem Flatterband. Und abends wieder zurück.

Vormittags füttere ich nämlich die Meerschweinchen. Ich füttere den Graupapagei. Ich füttere die Zierfische. Ich füttere den Hasen Valentin. Alles für die Zoohandlung Qual. Nachmittags füttere ich die Hipster vom Prenzlauer Berg mit ähnlicher Kost. Dreimal in der Woche bediene ich im vegan living. Manchmal ist wenig zu tun. Dann staube ich die Winkekatzen ab, die auf dem Tresen stehen. Arm für Arm.

 

Am letzten Wochenende bin ich zu meinen Eltern gefahren. In den kleinen Ort, der überall sein könnte und in dem zweimal am Tag eine Regionalbahn hält. Ein Ort mit ordentlich gestutzten Hecken vor blank polierten Fenstern.

Vater und Mutter leben in einem zweistöckigen Haus, einem Klinkerbau, aufgereiht und eingefügt in die Siedlung wie eine rote Kapsel im Blister. Eine zerbrechlich scheinende Garage schmiegt sich an das Gebäude.

Als ich am Sonntagmorgen am Frühstückstisch saß, schob meine Mutter wortlos die Butterdose über den Tisch. Ihr Blick blieb am Wachstuchmuster hängen. Ein Nicken meines Vaters in die Richtung der Butterdose hatte genügt. Er blickte aus dem Fenster, bevor er mit dem Messer langsam über die Butter strich, eine fast zärtliche Bewegung. Berührung.

„Ich muss die Sträucher runterschneiden. Sie überwuchern alles. Die Häuser gegenüber sind gar nicht mehr zu sehen.“

Er fügte noch hinzu: „Jetzt habe ich endlich die Zeit dafür.“

„Ich finde es eigentlich gut, wie es ist. So können die Nachbarn nicht hereinschauen.“

„Aber hier gibt es doch nichts zu verheimlichen.“

„Ich fühle mich trotzdem beobachtet.“

„Ich habe lieber einen freien Blick. Jetzt endlich.“

„Es wirkt dann alles so“, Mutter suchte nach dem richtigen Wort, „aufgeräumt.“

„Genau das will ich, aufräumen.“

Vater stieß das Messer in die Butter.

Meine Mutter stand auf und räumte ihren Teller und ihren Becher zu dem schmutzigen Geschirr der Vortage in die Spülmaschine. Es klapperte leise. Ein Schneidebrett roch schwach nach blutigem Fleisch.

„Bist du fertig?“ Sie hatte sich zu ihm umgedreht und machte Anstalten, auch seinen Teller wegzuräumen.

Nur eine einzige kleine Geste mit der Hand. Eine endgültige, die so viel hieß wie lass es, mehr tat er nicht.

Sie nahm einen nassen Putzlappen und wischte die Krümel vom Tisch, nur von der Seite, wo sie gesessen hatte und fragte:

„Ich geh einkaufen. Wollt ihr etwas Bestimmtes?“

 

Wenn ich am Freitag vor den verschlossenen Türen im Treppenhaus verweile und sich mit einem Mal eine öffnete und jemand käme heraus und würde mich auf einen Kaffee einladen, dann könnte ich das nicht. Keinen Satz brächte ich heraus. Keinen Schritt könnte ich machen. Ich wäre wie leer gefegt. Es ginge einfach nicht. Ich würde stumm vor demjenigen stehen und ihn anstarren. Erst, wenn die Tür verschlossen wäre, könnte ich mich wieder bewegen.

 

Heute war wieder so ein Tag. Dienstag.

Einmal Tofu Bolognese mit Kichererbsen.

Einmal Safran-Zitronen-Risotto mit Brunnenkresse.

Tisch vier. Tisch zehn.

Aber schnell.

Ich lief hin und her. Einzelne Strähnen lösten sich aus meinem Pferdeschwanz, meine Knie zitterten. Ich schwankte wie ein Kind im Bällebad. Kurz vor dem Ertrinken.

Jetzt möchte ich nur noch meine Wohnungstür verschließen. Von innen. Aber erst zum Briefkasten. Ein harmlos wirkender weißer Umschlag fällt mir entgegen.

 

Sehr geehrte Frau K., wir bedanken uns herzlich, dass Sie die Treppenhaus-Reinigung so sorgfältig und zuverlässig in den letzten Monaten erledigt haben, wir haben uns aber jetzt entschieden, einen professionellen Reinigungsdienst damit zu beauftragen….

 

 

 

In einer fremden Stadt - In einem fremden Leben

 

In: experimenta, Virgins & Dragons, Online- und Radio-Magazin für Literatur und Kunst, Bingen 10/2019

 

Warum sie aus dem ICE ausgestiegen war, sie wusste es nicht. Automatismus, eine spontane Idee?

Im weichen Polsterbezug des Großraumwagensitzes war der Abdruck ihres Körpers zurückgeblieben. Die Tür hatte sich lautlos geöffnet.

Sie betrat den Bahnsteig vorsichtig mit ihren dünnen Lederschuhen, zögerte einen Moment; den Impuls, wieder einzusteigen, ignorierte sie. Sie starrte den wenigen Reisenden nach, die dem Bahnhofsgebäude in einem schmutzigen Backsteindekor entgegenstrebten. Der Zug wartete ungewöhnlich lange. Schließlich schloss die Tür leise. Er fuhr langsam an, beschleunigte und war schnell verschwunden.

Ein heller Frühlingshimmel, die Wolken in einem harmlosen heiteren Kolorit.

Sie verharrte immer noch auf demselben Fleck. Der letzte Reisende verschwand durch den Eingang zum Gebäude. Sie war allein. Die Zeit schlich wie ein Faultier. Eine Bahn, die ohne Halt an ihr vorbeiraste, riss sie aus der Versunkenheit. Der Fahrtwind verwirbelte ihre langen Haare.

Bin ich schon einmal hier gewesen? Sie schüttelte den Kopf. Es kam immer häufiger vor, dass sie sich nicht erinnern konnte, als ob es leere Sektoren in ihrem Kopf gäbe.

Sie schritt auf die Bahnhofshalle zu. Geruch von ungelüfteten Räumen, altem Papier und chemischen Reinigungsmitteln schwebte in der Luft. Der Fahrkartenschalter war geschlossen. Mittagspause. Ein verbogenes Pappschild mit unbeholfenen Buchstaben hinter Glas. Holzsitze in der Mitte des Raums, auf denen ein Mann, in eine Decke gehüllt, schlief.

Auf der Durchreise oder an seiner Endstation, grübelte sie und huschte auf Zehenspitzen hinaus.

Vor dem Bahnhofseingang eine vielbefahrene vierspurige Straße. Mit einem Mal war es laut. Aufheulende Motoren, quietschende Reifen, kreischende Bremsen und der Knall eines defekten Auspuffs. Sie hörte noch etwas anderes, monotones helles blechernes Glockenläuten. Das letzte Geleit. Sie zuckte zusammen und hielt sich die Ohren zu.

An der Ampel dauerte es lange, viel zu lange, bis das grüne Signal erschien. Zusammen mit einem Pulk von Leuten mit Rollkoffern überquerte sie hastig die Straße und blieb unschlüssig auf der anderen Seite stehen. Am Rinnstein hatte sich eine Pfütze gebildet, auf der Luftschlangen, Konfetti und vertrocknete Blätter tanzten.

Den Bürgersteig entlang zu schlendern, einfach drauf los zu laufen ohne Ziel, das erschien ihr die passende Beschäftigung zu sein an einem Frühlingstag, der anscheinend beschlossen hatte, den langen frostigen Winter in die Flucht zu schlagen. Die Menschen eilten an ihr vorbei. Sie hatte den Eindruck, dass alle ihr entgegen kamen.

Die Hausfassaden waren in einer schnörkellosen Sechzigerjahre-Architektur, stadtgrau oder in einem verblichenen Ockerfarbton. Heruntergelassene Rollläden verhinderten den Einblick in Parterrewohnungen, hier und da Pflanzenparaden, purpurfarbener Portulak, Vogelmiere und blinde Scheiben.

Sie ging mehrfach um die Ecke, die immer gleichen Hausfassaden, die immer gleichen Eingangstüren und Hofeinfahrten. Schließlich stellte sie fest, dass sie im Kreis gelaufen war, schon wieder derselbe Waschsalon, an dem sie gestartet war. Weiße Rechtecke mit runden schwarzen Löchern wie Bullaugen gestrandeter Schiffe. Zwei ältere Männer blätterten in Illustrierten.

Waschsalons und Bahnhofshallen sind Orte der Isolation;  Stadtwüsten, in denen das Atmen schwer fällt, schoss es ihr durch den Kopf.

Auf der anderen Seite ein Imbiss. Sie kaufte Kaffee in einem Pappbecher und eine Bratwurst, sie nahm Senf dazu. Der Verkäufer beobachtete sie. Er hatte ein typisches Verkäufergesicht und stechende Augen. Sie zupfte an ihrer leichten Jacke, ihr war plötzlich kalt.

Beim Hinauseilen warf sie den Rest der Wurst weg. Sie verspürte keine Lust mehr auf Streifzüge durch diese Stadt. Ja, sie wusste nicht einmal, wie die Stadt hieß, auf die Hinweistafel am Bahnhof hatte sie nicht geachtet.

Am Ende der Straße ein schwach beleuchtetes Schild an der Hauswand. Eine Drehtür; sie trat ein und buchte ein Zimmer für eine Nacht. Die Empfangshalle war plüschig in Rot und Gold gehalten, dem Anschein nach teuer und edel. Auf sie wirkte das Interieur unästhetisch, und der krasse Gegensatz zu der tristen Hausfassade amüsierte sie. Der Rezeptionist mit einem beflissenen Lächeln, das eine Spur dreistes Grinsen enthielt.

Das Zimmer war groß, zu groß für eine Person, dachte sie. Das Bad weiß gekachelt. Sie setzte sich auf den Stuhl mit wirrem Muster.

Ihr Smartphone vibrierte.

Simon! Sie wartete, war unschlüssig, ob sie ihn sprechen sollte. Schließlich nahm sie das Gespräch an.

„Hanna, wo steckst du? Ich dachte, du wärst längst hier!“

Der vorwurfsvolle Ton schmerzte sie ein wenig.

„Ich bin…, also ich komme heute nicht mehr, ich schaffe es nicht, so viel Arbeit mit der Versuchsreihe am Institut, und du kennst meinen Chef.“

Sie machte eine Pause, kaute auf ihrer Unterlippe und schnippte einen Krümel vom Tisch, den das Housekeeping übersehen hatte. Bestimmt bemerkt er das Stammeln. Das Handy fühlte sich unangenehm am Ohr an. Sie schwitzte.

„Kommst du morgen?“

„Ja bestimmt.“

Eine klare Aussage ist immer gut, sie nickte und beendete das Gespräch, bevor es sich wie Kaugummi in die Länge ziehen konnte. Sie war erleichtert über die vielen Kilometer, die sie von Simon trennten.

Morgen muss ich es ihm sagen, dachte sie. Er muss es wissen.

Sie schaute sich im Zimmer um, der Raum war schattig, sie öffnete das Fenster und warf einen Blick in den Innenhof, das Rumpeln von Mülltonnen war zu hören und Vogelgesang. Der Schrei einer Katze. Hierher verirrt sich bestimmt kein Sonnenstrahl. Norden, sie lächelte. Norden ist gut, klar und kühl.

Sie ging in die Hotelbar hinunter und bestellte sich einen Campari Orange. Gegenüber schon wieder ein Mann mit stechenden Augen. Er setzte sich zu ihr. Es passierte öfters, dass sich Männer unaufgefordert zu ihr setzten, sie hatte schon häufig darüber nachgedacht, warum das so war.

Aber vor allem dachte sie jetzt an die Abende mit Hannes. An ihm war viel Weiches, seine Augen und Hände, seine Stimme, sein Haar. War es erst vier Wochen her, dass sie ihn gesehen hatte? Es hätten auch zehn Jahre sein können. Verschwommen seine Worte, nebulös sein Streicheln ihres Bauchs, wenn sie spät zusammen in seine Wohnung gingen.

Der Mann neben ihr sagte irgendetwas. Es hätte vielleicht ein netter Abend werden können, aber sie war nicht in Stimmung, trank schnell aus, murmelte eine Ausrede und stand auf. Seine Zähne sind zu weiß, und das Hemd ist zu glatt, entdeckte sie noch, als sie verschwand.

Sie legte sich auf das große Bett in dem riesigen Zimmer, das Laken war gestärkt und auch zu weiß. Ein Gefühl, in Folie eingeschweißt zu sein. Sie blickte an die Decke. Sie bewegte sich nicht.

Morgen werden wir also auf seinem gemütlichen Sofa sitzen, er in der einen Ecke, ich in der anderen, und ich werde sagen: ›Unser Vater ist tot, letzte Woche gestorben, beerdigt ist er schon, ich weiß es von seiner Nachbarin. Er fiel einfach um. Das Herz. Er starb in seinem knöchellangen schwarzen Gewand. Das Beffchen streng ausgerichtet.‹

 

Und ich werde Simon beobachten, wie er über die lange Narbe an der Stirn streicht, und ich werde zu ihm sagen: ›Bitte jetzt keine Gespräche von früher. Lass uns einfach alles vergessen.‹

 

 

still

 

In: Zwischen den Sirenen. Mit Poesie durch Pandemie, hrsg. von Anna W. von Huber, Oliver Bruskolini, Jakob Leiner. Sternenblick e.V., Berlin 2020

 

die stille in den siedlungen

ich atme sie ein wie staub

eingestürzter häuser über kalten betten

verklungen der schrei

grauweiß das stumpfe fell der katze

die auf dem warmen kopfsteinpflaster schläft

in der ferne luftspiegelungen

 

 

cremiger tag

 

In: budenblaetter, Berlin 2020

 

er gleitet mir aus den händen

zieht ein in die haut

in die haarrisse

in die schichten

 

draußen

schwankt die stadt zwischen taubenblau und königsblau

hält die luft an

die horizontlinie wirkt gebogen

 

der geruch der straße

wie frisch gemähte pflastersteine

die monotone melodie einer martinshornsirene ist verstummt

 

dort abseits der häuser

eine spur

  


 

Das blaue Bild

 

In: Textmanege Berlin, Februar 2023

 

Ines lief ins Badezimmer und ließ sich eiskaltes Wasser über die Pulsadern laufen. Ihr dünnes Long-Shirt klebte am Körper. Sie atmete durch den Mund, wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und wusch die Farbe ab, die sich auf ihren Händen und Armen verteilt hatte. Ein blauer Strudel strömte in den Abfluss. Sie erahnte den schwarzen Schlund, der unter der Öffnung lauerte. Aus dem Dachfenster ihrer Atelierwohnung schaute sie in den großstädtischen Hochsommerhimmel. Harmlose Wölkchen verzierten die blassblaue Endlosigkeit.

Sie eilte barfuß auf dem kühlen Steinboden zurück ins schwüle Atelier. Eine großformatige, auf Keilrahmen aufgezogene, Leinwand lag auf dem Boden und glänzte nass. Farbpigmente, Aquamarin, Preußischblau, Bergblau, Azur, Cerulean, Indigo, überall auf dem Boden verteilt, angerührt in Töpfen und Schalen, versetzt mit feinkörnigem Sand und kaltem bröckeligem Kaffeesatz. Ines nahm den Rundpinsel in die Hand und verteilte die Farbe, dickflüssig und üppig. Die Blautöne in Schichten von grell bis dunkel, voll und ausgelaugt, als hätten sich alle Behälter synchron entleert. Mit einer Rakel verstrich sie die pastöse  Masse. Sie ritzte Zeichen mit dem Griff des Pinsels in die noch feuchte Farbe, verwischte alles wieder. Verletzte die Leinwand mit einem Messer, malte neue Farbschichten, einen Dschungel aus Linien, Flächen, Punkten, Sprengseln, Höhlen. Die Leinwand ächzte unter der Last. Der Geruch nach Terpentin und Firnis lag wie eine Nebelwolke im Raum.

Sie hatte ihren eigenen Stil entwickelt. Nächste Woche sollte eine Werkschau in der angesagten Galerie ›Paul Silber‹ eröffnet werden.

Ines holte die Flasche mit der schwarzen Tusche aus dem Regal. Sie glitt in ihrer verschwitzten Hand hin und her. Plötzlich verschüttete sie Flüssigkeit. Wie Quecksilber rollte sie glitzernd über das Bild, bevor sie hineinrutschte in das Gewebe, versackte und einen zerfaserten tiefschwarzen Fleck hinterließ.

Sie hielt inne. Der Klecks wurde zu einer Hand. Sie schälte sich aus der Leinwand heraus, finster und fordernd, und griff nach ihren Waden. Erst packte sie fest zu, lockerte anschließend den Griff und streichelte über ihre Gänsehaut.

Ines schrie auf.

„Geh weg, ich will dich nicht mehr sehen und spüren! Immer wieder kommst du, in jedes Bild!“

Sie lief keuchend und röchelnd im Atelier auf und ab und stolperte zurück zum Bild. Sofort kam die Hand hervorgeschossen und angelte nach ihr. Sie goss die blaue Farbe, die noch im Eimer schwamm, über die Leinwand. Die Hand befreite sich und wollte sie wieder greifen. Ines stieß den Atem aus. Schnaufte. Kälte breitete sich in ihren Beinen aus. Die Füße kribbelten.

Der Deckenventilator gab ein gleichmäßiges Geräusch von sich. Ein Quietschen, wie ein nicht geöltes Scharnier. Ines lief ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Erst schoss es heiß heraus. Sie brüllte. Dann kalt. Der Spiegel über dem Waschbecken beschlug. Sie wischte ihn klar.

Zuerst nahm sie das Klingeln nicht wahr. Aber es hörte nicht auf. Sie benutzte die Gegensprechanlage und drückte den Türöffner. Es war Paul, der Galerist.

Sie lauschte dem Stapfen, das im Treppenhaus immer näher kam.

Paul lächelte, als er schließlich vor ihr stand, und schüttelte seine schwarzen Haare, bis sie in Fransen in die Stirn hingen.

„Was für eine Hitze!“, rief er.

Ines nickte und ließ ihn herein. Er ging ins Atelier und blieb vor dem blauen Bild stehen. Er starrte es an. Er versank im Blau. Er ertrank im Blau und schwieg. Lange. Sie auch.

„Das ist das Beste! Noch viel besser als die, die schon in der Galerie sind“, stieß er hervor, „das bekommt den Platz gleich am Eingang.“

„Es ist noch nicht fertig“, sagte sie und strich sich mit der Hand über das Gesicht.

„Wann kann ich es holen?“

„Nächste Woche.“

Sie stand vor dem Bild, ihm den Rücken zugewandt. Er näherte sich und presste sie an sich. Er tastete mit seinen Händen unter ihrem Shirt und streichelte ihre Brustwarzen. Seine Fingerspitzen umrundeten den Bauchnabel, loteten die Tiefe aus. Seine Lippen berührten ihren Nacken. Paul fasste mit der rechten Hand in ihren Slip. Sie stöhnte auf und drängte sich an seinen Bauch. Ihr langes Haar floss über seine Schulter.

Die Hand auf der Leinwand hatte zugesehen. Nun schnappte und grapschte sie nach ihr. Sie berührte ihren Fuß. Mit einer raschen Bewegung stieß die Hand Paul nach hinten. Er taumelte.

„Was war das? Warst du das?“

Atemlos spuckte er die Sätze aus, seine Lippen vibrierten, und er sackte auf dem Fußboden zusammen. Eine lange Pause entstand.

Schließlich stand er auf und ging um das Bild herum, fixierte es. Betrachtete es wie einen Feind.

„Kann ich es nächste Woche abholen?“

Seine Augen flackerten.

„Ja, klar.“

Sie brachte ihn zur Tür und verschloss sie sofort hinter ihm, ging ins Badezimmer und duschte. Kalte Nadeln massierten ihren Körper. Sie duschte lange, bis die Haut an den Füßen schrumpelte. Sie zog eine dünne Leinenhose an und ein T-Shirt und ging zum Discounter um die Ecke. Ein Tiefkühlgericht, zwei Flaschen Wasser und Weißwein. Zurück in ihrer Wohnung, schob sie die Mahlzeit in den Ofen. Trank gierig die Wasserflasche leer. Sie schaute aus dem Fenster, Schwalben tanzten hoch oben im Azurblau. Im Stehen aß sie vor dem Bild. Schlang das fade Essen herunter.

Die Hand war noch da.

 

Sie nahm einen Stock und tauchte ihn in ein Glas mit Zinnoberrot. Sie schrieb, sie stach krakelige Buchstaben in die Farbschichten, direkt auf die Hand: ›Ich töte dich‹. Der rote Farbstoff schmiegte sich blutend an das Blau.