Aktuelles
riss
sie reißt den puppen die köpfe ab
die mutter bügelt
die mutter bügelt das leben glatt
der vater liebt die uhren
tick tack tick tack
sie reißt sich die Haare aus
der vater schweigt
einen tag
einen monat
ein jahr
die mutter lächelt
die mutter lächelt die fassade schön
sie reißt die tapete von der wand
die mutter webt
die mutter webt ein rosa band
der vater tritt ihren teddy tot
sie zerreißt die fotos im rahmen
der vater geht
einen tag
einen monat
ein jahr
die mutter kocht
die mutter kocht die liebe zu brei
In: neolith, Magazin für neue Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal, #8 unartig, 2023/24
Blisterknistern. Ich presse hastig eine rote Kapsel heraus. Die vierte oder fünfte. Mein Mund brennt beim Schlucken. Hochgefühl schleicht sich in Trippelschritten an. Die Krankenhauswände verlieren ihr hartes Weiß. Zum ersten Mal schaue ich mir die Striemen auf den Armen an, den Schnitt, das Schlagmal am Bauch, die Wunde darunter, die verletzte Haut. Es gibt so viele Worte für den Schmerz.
Gestern saß ich an der Bar. Mit Ben. Oder hieß er anders? Ich hatte ihn über eine Dating-App kennengelernt. Ben lächelte. Er lächelte den ganzen Abend. Ich nagte an meiner Unterlippe und rührte mit dem Strohhalm im Cocktail.
Als ich von der Toilette zurückkam, schob Ben mir das halbvolle Glas herüber. Er strich mir linkisch über die Hand. Ich trank in großen Zügen.
Die Musik klang plötzlich schrill.
introspektivminiatur "Schlagmal" in: introspektiv #5 Licht, Prosa:ist:innen, hrsg. von Julia Hoch und Sabine Gelsing, Essen 2023
Helms Klamm
Der rotsamtige Vorhang schloss sich langsam, und der »Eine Ring« war in den Schicksalsklüften vernichtet worden. Vor dem Kino verschluckte die Dunkelheit die letzten Zuschauer. Unsere vom Hinweg-Regenguss noch feuchte Kleidung atmete müde. Ein Haufen Sperrmüll, gestapelt und missgelaunt, lag am Straßenrand. Der ausrangierte Kaffeevollautomat mit Ork-Visage grinste frech, während er seiner Vernichtung entgegenfieberte. Ihre gläsernen Zähne zeigte die Pfütze auf der Straße, ein Asphalt-Meer ohne Wellen. Taxis hupten um ihr Leben. Die Nacht streichelte uns mechanisch und aus dem Späti quollen Wortfetzen. Wir hörten Knistergeräusche der Decken-Leuchtstoffröhre, deren Licht auf den Gehweg fiel, stolperte und im Gully versank.
Ich fragte dich, ob wir am Landwehrkanal spazieren gehen könnten. In der Finsternis bricht das Wasser sein Schweigen. Du wolltest in die nächste Bar, etwas trinken. An der Tür zum »Mordor« blieben wir stehen. Wir bewegten uns nicht, schwiegen und hatten längst begriffen, dass die letzte Schlacht zwischen uns klamm geworden war.
In: silbende_kunst, Klammerheft, hrsg. von Jenny Feuerstein, Köln, #28, 2023
Nach der Bestrahlung fährt sie ans Meer
Zu ihren Caspar-David-Friedrich-Momenten
Der einsame Mönch
Die einsame Frau
Die Frau
Die im Blau versinkt
Ein Seestück mit weit geöffneten Türen
Sie sitzt im Sand
Der noch warm ist vom Tag
Die Wellen singen ein Lied der Unsterblichkeit
Die junge Frau presst ihr Baby an sich
Es bewegt sich kaum
Tagelang nichts gegessen
Kaum getrunken
Die Löcher im Schlauchboot zischen
Die schwarze See runzelt ihre Stirn
Und schüttelt das Medusenhaupt
Schäumt vor Wut
Salzig
Tief
Fordernd
Brutal wie die Bomben
Der Schlepper schreit und flucht
Fuchtelt mit den Armen
Das Meer nimmt
#kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, #kkl30 „Macht & Ohnmacht“, 10.07.2023
https://kunstkulturliteratur.com/2023/07/10/ohne-titel-4/
on the knees, Acrylfarbe, Kreide, Tusche, Stahlwolle, Foto auf Leinwand, 29,5 x 23,5 cm, 2023
Prolog - Heft für Zeichnung und Text, 26, "Hell und Dunkel", Berlin, Juni 2023
es ist das flüchtige
das berühren der feder
des strandläufers
sandkörner
die im dickicht
der gräser verwehen
das abflauen
der kluft
windflüchter
schweigen
am rand der ruhe
in der haut
des wellenkörpers
verebbt die zeit
2023 im Kunstgarten im Budde-Haus/Leipzig