Aktuelles

 

Die Bergtour

 

Der Himmel trägt Grau über dem Berg. Ein glänzendes Grau wie der gewaschene schwankende Berg. Birke Seidler schwankt im Regen durch das Unterholz des Waldes. Sie läuft Zickzack. Wie vom Blitz getroffen.

 

Auf dem Fußboden hatte ein Mäanderband gezickzackt. An jenem Abend. Der Boden, auf dem Birke mit Unterleibsschmerzen gelegen hatte.

 

Eine Blaumeise war im Wald vom Ast gefallen. Sie liegt auf dem matschigen Boden und fächert sich Luft mit den Flügeln zu. Den Blick hat sie starr nach oben gerichtet zum Nest in der Baumhöhle. Das Nest besteht aus Plastikwolle, Papierstreifen und Tannennadeln. Die Kleinen sind noch nicht da. Sie sind schon zu hören hinter der weißen Schutzschicht. Poch. Poch. Poch.

Die Meise stirbt.

 

Birke Seidler sucht Schutz vor dem Niederschlag unter dem dichten Blätterdach einer Buche. Sie stellt den Rucksack ab. Er ist schwer. Kein Tag für eine Bergtour. Vor ihr liegt die tote Meise. Sie begräbt sie und legt Zweige auf ihr Grab.

 

Sie duschte an jenem Abend viele Stunden. Sie kauerte auf dem Boden der Duschkabine und ließ das Wasser laufen, laufen, laufen. Und streckte ihre Hände nach oben wie ein Chirurg seine grünen Gummihände in die Höhe streckt nach der Desinfektion.

 

Der Name Birke war Mutters Idee gewesen. Birke war eine Hausgeburt. Die Mutter hatte in den Wehen liegend aus dem Fenster gestarrt und die schwankenden Bäume davor angeschrien. Eine Birke war dabei gewesen. Damals hatte es auch geregnet. Der Vater saß in der Küche und rauchte. Er starrte auf die Wachstuchdecke, die auf dem Tisch lag. Grün gemustert, ein schwammiges Grün. Seine Hände waren behaart und zitterten, als er die Zigarette ausdrückte.

Im Wohnzimmer ordentlich aufgeräumte Schränke und saubere Gardinen. Nirgends ein Staubkorn. Ein leergebrülltes Gebiet. Eine Zone. Für ein Duell. Für Worte wie Stiche mit der Tätowier-Nadel in tiefe Hautschichten. „Ich wasch dir den Mund mit Seife aus“, sagte die Mutter, ihr Rock war immer eine Handbreit unterhalb des Knies. Er verrutschte nie. Eine starre Ordnung. Die Gesichter der Eltern waren aufeinander eingespielt. Sie hatten Münder, die wie fleischfressende Pflanzen aussahen.

Jahre später verschwand der Vater. Er ließ alles zurück. Das Haus. Das Haus mit verbogenen Hausbriefkästen, heraushängenden Prospekten, einem Lichtschalter mit neonleuchtendem Nachtlicht, und er ließ auch das schwammige Grün des Wachstuchs zurück. Ein Geschmack nach Unklarheit blieb.

 

Der Regen hört schlagartig auf. Birke schultert den Rucksack und läuft den schmatzenden und saftigen Weg entlang. Es tropft von den Zweigen. Der Wald riecht sauber und geheimnisvoll. Ein Vogelschrei, ein Raunen der Baumkronen, sonst ist es still. Sie fällt in einen monotonen Gang wie ein trabendes Pferd.

 

Das Blut auf dem Boden war schnell getrocknet an jenem Abend, dunkelrote Flecken und Spritzer auf dem akkuraten Fußbodenmuster. Selbst an der Wand. Eine weiße Rauputzwand. Weiß ist die Farbe der Einsamkeit. Kristallhartes Weiß. Das Weiß von Bettlaken und das Weiß von Schnee. Das Weiß von weißem Haar alter sterbender Menschen und von bleicher Haut von Kindern.

 

Birke schleppt sich in ihren schweren Wanderschuhen den geschlängelten Pfad hinauf. Der Berggipfel liegt im Nebel und ist nur zu erahnen. Der Weg wird immer steiniger. Die Steine sind glitschig und kullern bei jedem Schritt beiseite. Kleine Geröll-Lawinen. Sie stapft beharrlich immer weiter, immer weiter hinauf, bleibt nur einmal stehen, um sich zur Stadt umzublicken, deren Lichter und Geräusche immer kleiner und leiser werden. Obwohl es erst Nachmittag ist, dämmert es schon.

 

Der Raum, in den sie die behaarten Hände mit dem Küchenmesser in der einen Hand gezogen hatten, war schattig und kühl. Sehnige muskulöse Arme. Sie wurde gestoßen und fiel auf den Steinboden. Er war sofort über ihr, riss die Kleider auf. Er quetschte ihre Brustwarzen. Das Messer immer an ihrer Kehle, aus der sie keinen Laut ausstoßen konnte. Sein steinhartes Fleisch stieß zu, immer wieder. Ein Schnitt an der Kehle. Schmerzen bis in die Eingeweide. Ein Wolfsriss.

Zementfliesen mit Arabesken und Vektoren. Ein Mäanderband auf schwarzem Untergrund. Rote Flecken verschandelten das vornehme Muster.

Nachdem er verschwunden war, krümmte sie sich zusammen und blieb liegen. Ihr Körper brannte und explodierte. Bis sie sich hochrappelte vergingen drei Stunden. Sie kletterte auf den Küchenschrank. Hoch in die Höhe. Das war der sicherste Ort.

 

Sie erreicht die Bergspitze. Nur noch rutschige Felsen. Der Nebel liegt jetzt im Tal.

Ein Schritt in die falsche Richtung und Birke Seidler würde ausrutschen, so wie ihr gesamtes Leben ins Rutschen gekommen ist. Ihr Körper würde fallen und dumpf auf einem Felsvorsprung aufprallen.

 

Zwei Bergsteiger nähern sich dem Gipfel, sie keuchen.

„Siehst du die Frau dort auf dem Felsen, eine Wanderin über dem Nebelmeer.“

Er lächelt und zeigt nach vorn.

„Wie sie sich auf den Stock stützt und das kurze blonde lockige Haar, genau wie auf dem Poster im Bahnhofswartesaal in Greifswald.“

Sie wedelt aufgeregt mit den Händen.

„Mach schnell ein Foto, bevor sie merkt, dass wir hinter ihr stehen“, flüstert sie.

Er zückt das Smartphone.

 

 3. Platz beim Literaturfest an der Dahme in Berlin am 24.08.2024

  

 

riss

 

sie reißt den puppen die köpfe ab

die mutter bügelt

die mutter bügelt das leben glatt

der vater liebt die uhren

tick tack tick tack

 

sie reißt sich die Haare aus

der vater schweigt

einen tag

einen monat

ein jahr

die mutter lächelt

die mutter lächelt die fassade schön

 

sie reißt die tapete von der wand

die mutter webt

die mutter webt ein rosa band

der vater tritt ihren teddy tot

 

sie zerreißt die fotos im rahmen

der vater geht

einen tag

einen monat

ein jahr

die mutter kocht

die mutter kocht die liebe zu brei

 

 

In: neolith, Magazin für neue Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal, #8 unartig, 2023/24

 

Blisterknistern. Ich presse hastig eine rote Kapsel heraus. Die vierte oder fünfte. Mein Mund brennt beim Schlucken. Hochgefühl schleicht sich in Trippelschritten an. Die Krankenhauswände verlieren ihr hartes Weiß. Zum ersten Mal schaue ich mir die Striemen auf den Armen an, den Schnitt, das Schlagmal am Bauch, die Wunde darunter, die verletzte Haut. Es gibt so viele Worte für den Schmerz.

Gestern saß ich an der Bar. Mit Ben. Oder hieß er anders? Ich hatte ihn über eine Dating-App kennengelernt. Ben lächelte. Er lächelte den ganzen Abend. Ich nagte an meiner Unterlippe und rührte mit dem Strohhalm im Cocktail.

Als ich von der Toilette zurückkam, schob Ben mir das halbvolle Glas herüber. Er strich mir linkisch über die Hand. Ich trank in großen Zügen.

Die Musik klang plötzlich schrill.

 

 

introspektivminiatur "Schlagmal" in: introspektiv #5 Licht, Prosa:ist:innen, hrsg. von Julia Hoch und Sabine Gelsing, Essen 2023

 

 

 

Helms Klamm

Der rotsamtige Vorhang schloss sich langsam, und der »Eine Ring« war in den Schicksalsklüften vernichtet worden. Vor dem Kino verschluckte die Dunkelheit die letzten Zuschauer. Unsere vom Hinweg-Regenguss noch feuchte Kleidung atmete müde. Ein Haufen Sperrmüll, gestapelt und missgelaunt, lag am Straßenrand. Der ausrangierte Kaffeevollautomat mit Ork-Visage grinste frech, während er seiner Vernichtung entgegenfieberte. Ihre gläsernen Zähne zeigte die Pfütze auf der Straße, ein Asphalt-Meer ohne Wellen. Taxis hupten um ihr Leben. Die Nacht streichelte uns mechanisch und aus dem Späti quollen Wortfetzen. Wir hörten Knistergeräusche der Decken-Leuchtstoffröhre, deren Licht auf den Gehweg fiel, stolperte und im Gully versank.

Ich fragte dich, ob wir am Landwehrkanal spazieren gehen könnten. In der Finsternis bricht das Wasser sein Schweigen. Du wolltest in die nächste Bar, etwas trinken. An der Tür zum »Mordor« blieben wir stehen. Wir bewegten uns nicht, schwiegen und hatten längst begriffen, dass die letzte Schlacht zwischen uns klamm geworden war.

 

In: silbende_kunst, Klammerheft, hrsg. von Jenny Feuerstein, Köln, #28, 2023

 

 

 

 

Nach der Bestrahlung fährt sie ans Meer

Zu ihren Caspar-David-Friedrich-Momenten

Der einsame Mönch

Die einsame Frau

Die Frau

Die im Blau versinkt

Ein Seestück mit weit geöffneten Türen

Sie sitzt im Sand

Der noch warm ist vom Tag

Die Wellen singen ein Lied der Unsterblichkeit

 

Die junge Frau presst ihr Baby an sich

Es bewegt sich kaum

Tagelang nichts gegessen

Kaum getrunken

Die Löcher im Schlauchboot zischen

Die schwarze See runzelt ihre Stirn

Und schüttelt das Medusenhaupt

Schäumt vor Wut

Salzig

Tief

Fordernd

Brutal wie die Bomben

Der Schlepper schreit und flucht

Fuchtelt mit den Armen

Das Meer nimmt

 

 

#kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, #kkl30 „Macht & Ohnmacht“, 10.07.2023

 

https://kunstkulturliteratur.com/2023/07/10/ohne-titel-4/

 

 

 

on the knees, Acrylfarbe, Kreide, Tusche, Stahlwolle, Foto auf Leinwand, 29,5 x 23,5 cm, 2023 

 

Prolog - Heft für Zeichnung und Text, 26, "Hell und Dunkel", Berlin, Juni 2023

 

 

 

es ist das flüchtige

das berühren der feder

des strandläufers

 

sandkörner

die im dickicht

der gräser verwehen

 

das abflauen

der kluft

 

windflüchter

schweigen

am rand der ruhe

 

in der haut

des wellenkörpers

verebbt die zeit

 

 

 2023 im Kunstgarten im Budde-Haus/Leipzig